Das beste Auto der Parallelwelt
Von Jens Meiners, ampnet.de
Das beste Auto der Welt, das war eigentlich immer die S-Klasse von Mercedes-Benz:
Ausgerüstet mit der jeweils neuesten Technologie, luxuriös und leistungsstark gilt das
Stuttgarter Flaggschiff seit jeher als globale Messlatte der obersten Fahrzeugkategorie.
Doch jetzt gibt es Konkurrenz aus eigenem Hause. Als Spitzenprodukt für die angeblich
elektrische Zukunft hat Daimler nicht etwa die S-Klasse elektrifiziert, sondern ein völlig
eigenständiges Modell entwickelt: Den EQS. Wir sind ihn gefahren.
Die Eigenständigkeit dieser elektrischen Luxuslimousine manifestiert sich bereits in der
Optik. Mit seinem relativ kurzen Vorbau, der gewölbten Fahrgastzelle und dem in einem
Bürzel auslaufenden Fließheck setzt das neue Modell auf andersartige, moderne
Proportionen – und nutzt dabei, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen E-Autos der
oberen Preisklasse, das Potential einer ausschließlich elektrischen Plattform
uneingeschränkt aus.
Im Gegensatz zur S-Klasse, die in drei Längen gebaut wird, gibt es den EQS nur mit
einem Radstand. Doch der bietet bereits so viel Platz im Innenraum, dass eine nochmals
verlängerte Variante überflüssig ist. Das Platzangebot ist vorn wie hinten überaus
großzügig, und hinter den Rücksitzen befindet sich ein 610 Liter fassender Gepäckraum,
der über eine große Heckklappe zugänglich ist und bei umgelegter Rückbank auf 1770
Liter wächst.
Die kalte Pracht des Interieurs
Auch der Innenraum präsentiert sich futuristisch, gleichzeitig jedoch ungewöhnlich
opulent. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Armaturentafeln: Die Basisvariante verfügt
über große, separate Bildschirme, ähnlich wie die S-Klasse, und vor dem Co-Piloten
befindet sich eine Dekorfläche. Gegen Aufpreis gibt es ein durchgängig verglastes
Cockpit namens Hyperscreen, bei dem sich drei großflächige Bildschirme hinter Glas
verbergen. Die Ambientebeleuchtung kommuniziert per Farbe mit dem Fahrer, die kalte
Pracht dieses Interieurs sucht ihresgleichen.
Für Vortrieb sorgt im Einstiegsmodell EQS 450 eine Synchronmaschine, der über eine
einstufige Übersetzung 245 kW (333 PS) auf die Hinterachse überträgt. Der Spurt von 0
auf 100 km/h dauert 6,1 Sekunden, bei 210 km/h wird abgeregelt. Dabei bewegt sich der
EQS mit großer Leichtfüßigkeit. Wenn der Fahrer auf die automatische Rekuperation
verzichtet und das Auto rollen lässt, wird spürbar, wie gering die Fahrwiderstände sind.
Damit korrespondiert ein hervorragender Verbrauch von ganzen 15,8 kWh im WLTP-Zyklus, was einer Reichweite von bis zu 780 WLTP-Kilometern entspricht.
Auch im Realbetrieb lassen sich ohne weiteres 500 bis 600 Kilometer erreichen. Darüber rangiert
der zweimotorige EQS 580 mit Allradantrieb, der 385 kW (523 PS) leistet und den
Standardspurt in nur 4,3 Sekunden absolviert. Seine optimistische WLTP-Reichweite liegt
bei 676 Kilometern.
Langstrecke eher auf der LKW-Spur
Damit gehört die zum Erlebnis E-Auto gehörige Reichweitenangst theoretisch der
Vergangenheit an – allerdings nur dann, wenn auch schnelle Lademöglichkeiten zur
Verfügung stehen. Theoretisch liegt die Gleichstrom-Ladeleistung bei bis zu 200 kW.
Wenn es aber keine entsprechende Säule gibt, ist die Reise auch im EQS mit leerem
Akku erst einmal für längere Zeit unterbrochen. Die auf dem Papier eindrucksvolle
Reichweite relativiert sich, wenn man bedenkt, dass bei Dienstreisen auf eine Hinfahrt
über ein paar hundert Kilometer unweigerlich die gleich lange Rückfahrt folgt. Und so wird
man den EQS im Langstreckenbetrieb – genau wie das Konkurrenzprodukt aus
Nordamerika – eher auf der Lkw-Spur, denn im Rückspiegel zügig bewegter Turbodiesel
erblicken.
Stolze 2,5 Gewicht muss der Antrieb schon im Einstiegsmodell bewegen – und auch das
ist nur einem aufwendigen Materialkonzept zu verdanken. Bei reiner Stahlbauweise, so
heißt es hinter vorgehaltener Hand, hätte der EQS schon leer die Drei-Tonnen-Marke weit
überschritten.
Im Stadtverkehr wirkt der EQS ausgesprochen handlich, nicht zuletzt dank der
Allradlenkung mit 4,5 Grad Lenkwinkel, der sich optional auf 10 Grad vergrößern lässt.
Damit schrumpft der Wendekreis – eine alte Mercedes-Tugend – auf ganze 10,9 Meter.
Bei forcierter Fahrweise droht der EQS zum Untersteuern, die Wankneigung lässt sich
nicht ganz unterdrücken. Dafür liegt der Komfort auf höchstem Niveau. Die Federung
pariert auch grobe Unebenheiten und akustisch wirkt die Limousine fast völlig entkoppelt.
Ab 2022 automatisiertes Fahren auf Level 3
Der EQS ist mit einer großen Palette von Assistenzsystemen ausgerüstet, die den Weg
zum autonomen Fahren weiter beschreiten. Ab 2022 soll der Wagen auf Autobahnen bis
Tempo 60 im Level 3 autonom fahren können – und damit ein Versprechen erfüllen, das
zum Beispiel die Konkurrenz aus Ingolstadt bislang nicht eingelöst hat. Diese
eindrucksvolle Vision hat das System allerdings nicht davon abgehalten, in einer schnell
gefahrenen Kurve eine Vollbremsung hinzulegen, weil es einen am Straßenrand
geparkten Sportwagen für ein Hindernis hielt.
Der Ansatz einer eigenständigen elektrischen Baureihe ist reizvoll und sicherlich den
Herstellern überlegen, die ihre konventionellen Autos nachträglich elektrifizieren. Doch die
grundlegenden Nachteile des Elektroautos bleiben: Trotz eindrucksvoller Reichweite
bleibt die Langstrecke mit Unsicherheitsfaktor versehen, und daran, dass der für E-Autos
zusätzlich benötigte Strom vorwiegend aus schmutzigen Quellen kommt, kann auch
Daimler nichts ändern.
Und so bleibt aus unserer Sicht die S-Klasse auch weiterhin das beste Auto der Welt.
Während der EQS das beste Auto einer politisch erwünschten Parallelwelt ist, von der
noch längst nicht klar ist, wie sie letztlich aussehen wird. Die Preise stehen übrigens noch
nicht fest, werden sich aber auf dem Niveau einer vergleichbaren S-Klasse bewegen.
(Text und Fotos : ampnet.de/jm).